RÜCKFALLPROPHYLAXE DER BULIMIE IN DER POSTSTATIONÄREN ÜBERGANGSPHASE

Durch Prozess-Monitoring und systematisches Feedback mit dem Synergetischen Navigationssystem SNS können positive Effekte einer stationären Behandlung von Bulimie gefestigt werden.

Prof. PMU Dr. med. Isa Sammet

Bereichsleitung Oase und Ambulatorien
Chefärztin

Die Bulimia nervosa (ICD-10 F50.2) ist eine Essstörung, die durch wiederholte Anfälle von Heisshunger und eine übertriebene Beschäftigung mit der Kontrolle des Körpergewichts charakterisiert ist. Dies führt zu einem Verhaltensmuster von Essanfällen und Erbrechen oder anderen Massnahmen der Gewichtsreduktion. Diese können zu schweren Elektrolytstörungen mit entsprechender kardialer Gefährdung oder anderen körperlichen Komplikationen führen. Gemäss Bundesamt für Gesundheit (2025) liegt die Prävalenzrate in der Schweiz bei 2,4 % der Frauen und 1,9 % der Männer. Die Bulimie ist damit eine häufige Störung. Da Behandelte und Behandelnde überwiegend weiblich sind, wird im folgenden Text das generische Femininum benutzt. Männliche Patienten und Therapeuten sind ebenso gemeint.

Die meisten Patientinnen können ambulant behandelt werden. Für schwere Fälle mit mehrfachem täglichem Erbrechen kann ein intensives Therapieprogramm erforderlich sein, wie es im stationären Rahmen angeboten wird (AWMF Leitlinie 2018, S. 232). Der Verlauf der Erkrankung ist auch mit Therapie oft langwierig. Die Remissionsraten bessern sich nach stationärer Therapie erst über die Zeit hinweg. Studien zeigen, dass Patientinnen nach Behandlung über einen Zeitraum von 4 Jahren zu einem Prozentsatz von 32 % stabil symptomfrei blieben, über 6 Jahre lag der Prozentsatz bei 49 % und über 12 Jahre bei 70 %. (ebd., S. 198f.). Dies bedeutet umgekehrt, dass die Rückfallrate recht hoch und Handlungsbedarf gegeben ist.

Klinisch beobachten wir in der stationären Therapie häufig, dass die Ess-Brech-Attacken sistieren, sobald die Patientinnen aufgenommen werden. Sie lassen buchstäblich ihre Symptomatik vor der Tür zurück. Die angegebenen Gründe für diese Erfolge sind unterschiedlich: der schützende Rahmen der Station; ihre hohe Änderungsmotivation, die mit der Aufnahme auf die Station einhergeht; das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen und die damit verbundene Scham; Ablenkung durch die therapeutischen Massnahmen; die Möglichkeit, schwierige Emotionen, die sonst zu einer Brech-Attacke führen würden, therapeutisch zu bearbeiten; und nicht zuletzt die Regelmässigkeit von Mahlzeiten, die die Wahrscheinlichkeit von physisch bedingten Heisshunger-Attacken reduziert. Dieses Paket an haltgebenden therapeutischen Beziehungen, die Regulierung der Tagesstruktur und der Mahlzeiten sowie Hilfe bei der Emotionsregulation wirkt stabilisierend. Es überrascht nicht, dass es in vielen Fällen rasch zu Rezidiven kommt, wenn nach Austritt dieser schützende Rahmen wieder wegfällt. Obwohl die stationären Behandlungszeiten durchschnittlich bei 10 Wochen liegen, reicht diese Zeit oft nicht aus, um chronifizierte dysfunktionale Ess-Brech-Routinen dauerhaft zu durchbrechen. Ambulante Anschlussbehandlungen, die die Patientinnen entsprechend unterstützen, sind dringend indiziert, aber nicht immer sofort und ausreichend frequent verfügbar.

Die Zeit nach dem Austritt aus stationärer Therapie gilt allgemein bei allen Störungen als vulnerable Phase für die Befindlichkeit. Dies auch, weil Abschied vom wichtig gewordenen therapeutischen Team und der therapeutischen Gemeinschaft der Mitpatientinnen genommen werden muss. Und manchmal auch wegen einer gemischt ausfallenden Bilanz des Erreichten und der Rückkehr in ein oft unverändertes, manchmal pathogenes Umfeld. Vor diesem Hintergrund kann es zielführend sein, dass stationäre Therapeutinnen die Patientinnen in dieser vulnerablen Phase in Kooperation mit den Weiterbehandlerinnen noch für einige Zeit intensiv begleiten.

Internetbasiertes Feedback und Monitoring in der poststationären Phase 
In der Privatklinik Aadorf wird Patientinnen – das Einverständnis der Weiterbehandlerinnen vorausgesetzt – in einem Pilotprojekt ein poststationäres Monitoring mit Feedback-Gesprächen angeboten. Dieser Ansatz kann als Unterstützung von Selbstmanagement- Fähigkeiten verstanden werden, dessen Wirksamkeit belegt ist und für den Übergang von stationärer in ambulante Behandlung empfohlen wird (ebd., S. 219).

Internetbasierte Verfahren eines Symptom-Monitorings in der poststationären Phase können ein Medium sein, um seitens der Stationstherapeutin mit der Patientin noch für eine bestimmte Zeit in Kontakt zu bleiben. Die Monitoring-Verfahren können allerdings nur dann eingesetzt werden, wenn sie auch aus Sicht der Weiterbehandlerin geeignet sind, die geplante ambulante Behandlung zu unterstützen. Die Anwendung des Verfahrens setzt also nicht nur eine ausführliche Information der Patientin, sondern auch der Weiterbehandlerin voraus. Ausserdem müssen im weiteren Prozess regelmässige Informationsweitergaben und Absprachen erfolgen. Grundsätzlich können die Monitoring-Prozesse dann auch von den Weiterbehandlerinnen übernommen werden. Eingesetzt werden können Fragebögen, die das Essverhalten und sonstige symptomrelevante Aspekte erfassen. Sie können die Basis für Feedback-Gespräche sein, die die eigentlich wirksame Komponente des Verfahrens darstellen.

Feedback gilt allgemein als eine effektive und evidenzbasierte Methode zur Optimierung von Therapieergebnissen. Caspar (2025) stellt die verschiedenen Anwendungsbereiche und Aspekte von Feedback, z. B. die positive Wirkung von zeitnahem Feedback, ausführlich dar. Moderne internetbasierte Feedback-Systeme können zur Unterstützung von Feedback-Prozessen hilfreich sein. Sie können spezifische Dimensionen des psychotherapeutischen Prozesses (z. B. Symptomatik, Emotionen, sonstige symptomrelevante Kriterien) anhand von standardisierten oder individualisierten Skalen aus Patientinnensicht erheben (Prozess-Monitoring) und diese Verlaufsdaten an die Therapeutin und die Patientin zurückmelden (Prozess-Feedback). Auf diese Weise soll ein Bewusstsein für die Prozesse des Psychotherapieverlaufes ermöglicht werden, um aktiv Einfluss auf weitere therapeutische Entwicklungen nehmen zu können. Für die Therapeutin bedeutet dies, dass die Informationen mit den speziellen Bedürfnissen der Patientin und der individuellen spezifischen Dynamik des Behandlungsprozesses abgestimmt werden können (Kraus, 2014).

Vor dem Hintergrund der hohen Rückfallgefährdung der Patientinnen nach stationärer Behandlung einerseits und der Verfügbarkeit von elaborierten Feedback-Systemen andererseits werden in einem Pilotprojekt an der Privatklinik Aadorf eine Auswahl motivierter Patientinnen mit Bulimie in einen Monitoring-Prozess in der stationär-ambulanten Übergangsphase einbezogen. Im Folgenden wird das Monitoring-System kurz vorgestellt und an einem Beispiel illustriert.

Das Feedback-System SNS
Das Synergetische Navigationssystem SNS wurde an der Universität Salzburg auf der Basis der Theorie komplexer Systeme entwickelt. Der Zweck dieses internetbasierten Verfahrens ist die Abbildung von Veränderungsprozessen im Rahmen einer stationären oder ambulanten Psychotherapie in «Echtzeit» (Real- Time-Monitoring). Wesentlich ist, dass durch das SNS ein Prozess- Feedback auf der zeitlichen Höhe des Geschehens möglich wird. In regelmässigen Intervallen werden Feedback- bzw. Reflexionsgespräche auf der Basis von Informationen aus dem SNS durchgeführt.

Im Folgenden wird das SNS in Modifikation der Darstellung von Schiepek (2014) beschrieben. Beim SNS handelt es sich um eine Erhebungs- und Auswertungsmethode, mit der Patientinnen Fragebögen online auf ihrem Smartphone und damit ortsungebunden hochfrequent (z. B. täglich oder wöchentlich) ausfüllen können. Standardisierte Fragebögen können ebenso genutzt werden wie individuelle Fragebögen, deren Items sich aus der Exploration der Patientin entwickeln lassen.

Durch diese hochfrequenten Erfassungen werden längere Zeitreihen generiert. Wenn die Fragen einfach formuliert und in ihrer Anzahl auf z. B. 20 bis 25 Fragen begrenzt sind, benötigen die Patientinnen in der Regel nicht mehr als 5 Minuten täglich, was erfahrungsgemäss mit einer recht guten Compliance einhergeht. Von vielen Patientinnen wird das Ausfüllen der Bögen als sinnvolle Reflexion des Tagesgeschehens erlebt. Spezifische Auswertungsmethoden erlauben das Erkennen von pathogenen Mustern und deren Zusammenhang mit symptomrelevanten Aspekten. Dies kann die Grundlage von Feedback-Gesprächen sein. Das Besprechen der optisch sichtbar gemachten Verläufe, etwa der Befindlichkeit oder des Essverhaltens im Zusammenhang mit verschiedenen Belastungsfaktoren, kann die Selbstreflexionsfähigkeit verbessern, wie die Patientinnen es oft selbst erleben. Zeitnahe Feedback-Gespräche können diese Zusammenhänge verdeutlichen und etwaige Rückfälle entsprechend einordnen lassen. Hilfreich dabei ist eine Tagebuchfunktion. Die Patientin kann zu jedem Zeitpunkt einen Tagebucheintrag machen, was die Interpretation der Kurven erheblich bereichern kann: Dies, weil die entsprechenden Verläufe dann im Zusammenhang mit den Tagesgeschehnissen verstanden werden können.

Eine Besonderheit des SNS ist, dass es auf der Theorie komplexer Systeme beruht. Es stellt deswegen neben den Rohdaten-Zeitreihen nicht-lineare Auswertungen zur Verfügung, die zum Beispiel Sprünge der Befindlichkeit, Musterveränderungen und vor allem Phasen der Stabilität und der Veränderungsmöglichkeit erkennen lassen.

Diese sogenannte dynamische Komplexität setzt sich zusammen aus der Frequenz und Amplitude der Schwankungen einer Zeitreihe, die als Fluktuation bezeichnet wird. Die Komplexität wird für jeweils 7 Tage und in einem Gleitfenster, das um jeweils eine Messung verschoben wird, für die gesamte Zeitreihe berechnet. Dies ergibt dann eine neue Zeitreihe, in der Phasen der Stabilität und der Instabilität einfach abzulesen sind. 

Um den systemtheoretischen Gedanken der Veränderung und die Synchronisation der Items und Faktoren eines kontinuierlich ausgefüllten Fragebogens anschaulich zu machen, lässt sich im SNS auch eine Farblandkarte aufrufen, welche die Komplexitätsentwicklung aller Items eines Fragebogens visualisierbar macht. Aus diesen sogenannten Komplexitäts-Resonanz-Diagrammen geht hervor, wie stabil oder labil die Befindlichkeit einer Patientin ist.

Dies klingt etwas kompliziert und setzt eine Schulung im Umgang mit dem System voraus. Der eingearbeiteten Betrachterin erschliesst sich schnell, wann sich die Patientin in stabilen Zuständen bewegt und wann Veränderungen möglich werden oder Krisen auftauchen. Wie bei Erdbeben werden in allen komplexen Systemen, wie auch psychische Zustände sie darstellen, Krisen oft durch «Vorbeben» angekündigt, die sich in der Zeitreihe durch starke Fluktuationen der Befindlichkeit abzeichnen können. Wenn sich dies im Monitoring abzeichnet, kann durch eine therapeutische Intervention zeitnah reagiert und eventuell der Krise vorgebeugt werden. Fluktuationen führen aber nicht zwingend zu einer Negativentwicklung, sondern können auch Vorboten einer positiven Veränderung sein. Auch diese kann besser therapeutisch unterstützt werden, wenn sie früh erkannt wird.

Die Zeitreihenanalysen sind nicht mehr und nicht weniger als eine Unterstützung für ein therapeutisches Feedback. Das ausführliche diagnostische und therapeutische Gespräch kann und soll nicht ersetzt werden. Vielmehr bieten die Daten ein Hilfsmittel für eine genaue Analyse und können Grundlage sein für ein detailliertes Verständnis der pathogenen Prozesse. Grundsätzlich kann das System für viele Fragestellungen herangezogen werden, etwa auch zum Monitoring von starken Stimmungsschwankungen. Es kann grundsätzlich therapieschulenunabhängig eingesetzt werden. In verhaltenstherapeutische Verfahren kann die Methodik allerdings vermutlich einfacher integriert werden als in tiefenpsychologische. Für den Einsatz zum Monitoring der poststationären Übergangsphase ist die Schulenfrage jedoch kaum relevant, denn dieser verfolgt nur am Rande psychotherapeutische Zielsetzungen und ist mehr als Hilfe zur Überbrückung schwieriger Phasen gedacht.


BEISPIELHAFTE DARSTELLUNG DES PROJEKTS

Für die gegebene Problematik soll das SNS mit dem Ziel der Rückfallprophylaxe von bulimischen Patientinnen als Monitoring-Tool genutzt werden. Es sollen probeweise ca. 10 Patientinnen in das Verfahren eingeschlossen und regelmässige, etwa wöchentliche, kurze Feedback-Gespräche auf Basis des Monitorings und der Tagebucheinträge geführt werden.

Anwendungsbeispiel 
Gezeigt werden Verlaufsdaten einer Patientin mit einer Bulimie in den ersten 49 Tagen nach Entlassung aus stationärer Therapie. Prästationär hatte sie etwa drei- bis viermal pro Tag nach Ess-Attacken erbrochen und konnte sich von Gedanken an Essen nur jeweils sehr kurz ablenken. Während der stationären Phase traten die Ess-Brech-Attacken nicht auf. Sie berichtete, dass sie die sozialen Kontakte auf der Station stabilisierten. Im häuslichen Umfeld erlebte sie sich oft als sehr einsam.

Die Patientin füllte poststationär täglich einen Fragebogen mit dem SNS aus, der Items zum Essverhalten, zu emotionaler Befindlichkeit sowie zu ihren Alltagserfahrungen enthielt. Beabsichtigt war, dieses Monitoring für etwa 6 Wochen durchzuführen. Die Items waren jeweils individuell für die Patientin aufgrund von Angaben aus der Exploration erstellt worden. Für die Entwicklung der Items wurden Kriterien herangezogen, die die Patientin selbst als symptomrelevant erachtete. Für eine vereinfachte und damit besser verstehbare Darstellung werden hier nur zwei der insgesamt 30 Fragen in ihrem Verlauf beispielhaft gezeigt.

Abbildung 1 zeigt beispielhaft den Verlauf eines Items zum Essverhalten über 49 Tage, nämlich das Vorkommen von Ess-Attacken (blaue Linie). Hohe Werte zeigen jeweils dysfunktionales Verhalten an, d. h. in diesem Fall das mehr oder weniger häufige Vorkommen von Ess-Attacken. Bis zum 7. poststationären Tag war die Patientin relativ stabil, dann kamen bis zum 15. Tag Ess-Attacken sehr gehäuft vor. Ab dem 16. Tag kam es zu einem sprunghaften Abfall. Die gelbe Linie zeigt die Dynamische Komplexität. Dieses Mass setzt sich multiplikativ zusammen aus der Frequenz und Amplitude der Schwankungen einer Zeitreihe (Fluktuation) und dem Grad der Verteilung der Werte über den jeweils zur Verfügung stehenden Skalenbereich (Verteilung). Die Komplexität, also das Fluktuationsmass, wird in einem Gleitfenster von z. B. 7 Messungen berechnet, danach wird das Fenster jeweils um einen Zeitpunkt verschoben, sodass sich eine neue Zeitreihe ergibt, die das Ausmass an Stabilität bzw. Instabilität eines Items zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigt. Diese Darstellung entspricht der systemtheoretischen Annahme, dass Stabilität und Fluktuationen die Änderungsmöglichkeiten anzeigen. Diese Veränderungen können sich hin zu einer gewünschten oder unerwünschten Richtung entwickeln. Es handelt sich also um kritische Phasen, denen in der Therapie besondere Aufmerksamkeit zukommen sollte, um entweder Verschlechterungen abzuwenden oder Verbesserungen aktiv zu unterstützen. Während der Verlauf am Anfang Fluktuationen zeigte, trat ab dem 15. Tag eine relative Konstanz ein, was sich an den niedrigen Werten der Dynamischen Komplexität zeigt. Es kam vergleichsweise nur zu wenigen Ess-Attacken.

Abbildung 2 zeigt den Verlauf von Einsamkeitsgefühlen. Hohe Werte bedeuten wenig Einsamkeitsgefühle. Es zeigt sich, dass sich die Patientin nach Entlassung relativ stark einsam fühlte (Tage 4 bis 11), dass danach aber diesbezüglich eine Besserung eintrat. Und dies relativ stabil, was nur zwei grössere Schwankungen der Dynamischen Komplexität anzeigen. Die Patientin kommentierte dies im elektronischen Tagebuch, das hier aus Datenschutzgründen nicht dargestellt wird, dass sie wieder Kontakt zu einer ehemaligen Kollegin, mit der sie sich zerstritten hatte, aufgenommen habe und nun mit ihr wieder mehrmals im telefonischen Kontakt gewesen sei. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Ess-Attacken etwa gleichzeitig vermindern, wenn die Patientin sich weniger einsam fühlt. Dies wird im folgenden Diagramm (Abb. 3) durch den gegenläufigen Verlauf bereits nach Augenschein ersichtlich.

Dies hat unmittelbare therapeutische Implikationen. Das Thema der Einsamkeit kann mit ihr gezielt bearbeitet werden. Insbesondere kann aber datenbasiert aufgezeigt werden, wie ihr Essverhalten unmittelbar mit bestimmten Emotionen in Zusammenhang steht. Ziel ist hier eine Entkopplung von Gefühl und Nahrungsaufnahme. Das SNS hilft hier zur grafischen Veranschaulichung, indem die Zusammenhänge in Form von Korrelationen über die Zeit aufgezeigt werden können.

Um diese Fluktuationen, die ein Stabilitätsmass darstellen, anschaulicher zu machen, lässt sich im SNS auch eine Farblandkarte aufrufen, welche die Komplexitätsentwicklung der Items visualisierbar macht. Aus diesen sogenannten Komplexitäts-Resonanz- Diagrammen geht hervor, welches Item wann welche Komplexität aufweist und auch welche Zeitreihen synchron oder zeitversetzt eine erhöhte Komplexität realisieren. Dies lässt einige Schlüsse auf kausale Zusammenhänge zu. Das wird hier in Abbildung 5 veranschaulicht.

Das bunte Bild zeigt auf der Ordinate die beiden Items Ess-Attacken und Einsamkeitsgefühle. Auf der Abszisse ist die Zeit abgetragen, d. h. in diesem Fall die Erhebungen an den 49 Tagen, an denen der Fragebogen ausgefüllt wurde. Jedes Kästchen bedeutet also die Antwort auf eine Frage an einem gegebenen Tag (Zeile 1 Ess-Attacken, Zeile 2 Einsamkeitsgefühle). Die Farbskalierung zeigt, wie hoch die Schwankungen der einzelnen Items in dem gegebenen Gleitfenster von 7 Tagen jeweils waren. Blaue Kennzeichnung bedeutet geringe Schwankung, gelbe bis rote Markierungen bedeuten hohe Fluktuationen rund um einen gegebenen Zeitpunkt. Im vorliegenden Fall zeigen sich initial nach Entlassung noch grössere Schwankungen, vor allem bei den Ess-Attacken. Bei genauerer Kenntnis des SNS kann durch diese Darstellung rasch festgestellt werden, ob sich die Patientin gemäss ihrer eigenen Angaben bezüglich der erhobenen Kriterien stabil fühlt oder nicht.

Den Zusammenhang zwischen Einsamkeit und Essproblematik hätte die Patientin vielleicht auch im Gespräch ohne Hilfsmittel zum Ausdruck bringen können. Nicht immer sind den Patientinnen aber die Zusammenhänge klar. Die Visualisierung lässt die Entwicklungen jedenfalls besonders deutlich erkennen. Diese können im Gespräch in Form eines Feedbacks wieder aufgegriffen und zu einem therapeutischen Schwerpunkt gemacht werden. Diese Art von Monitoring erleichtert ein genaues Hinsehen auf Abläufe und Zusammenhänge aus Patientinnensicht und kann krisenhafte Entwicklungen aufdecken. Es mag sehr technisch anmuten. Deswegen sei betont, dass das SNS nur ein Hilfsmittel darstellt, das dazu dient, mit der Patientin datenbasiert ins Gespräch über das Erleben von Alltagssituationen nach der stationären Behandlung und dessen Zusammenhang mit der Essproblematik zu kommen. Die Patientinnen berichten oft, dass die tägliche Bilanzierung des Alltags, die sie mit dem SNS vornehmen, ihre Selbstwahrnehmung verbessert. Vor allem aber erleben sie es so, dass die auf Online-Daten basierende Präsenz der stationären Therapeutin für einen gewissen Zeitraum – etwa 6 Wochen – Sicherheit und Halt vermittelt. Damit wird die therapeutische Beziehung gestärkt, die bekanntermassen der stärkste Wirkfaktor von Psychotherapie ist.

Nach Einbezug einer ausreichenden Zahl von Patientinnen wird via Interview eine qualitative Analyse erfolgen, um einschätzen zu können, inwieweit das Verfahren als hilfreich bei der Rückfallprophylaxe erlebt wird. Über die Ergebnisse wird an dieser Stelle zu einem späteren Zeitpunkt berichtet. 

Quellen
AWMF S3 Leitlinie Diagnostik und Therapie der Essstörungen (2018). https://register.awmf.org/assets/guidelines/051-026l_S3_Essstoerung-Diagnostik-Therapie_ 2020-03.pdf (awmf.org).

Bundesamt für Gesundheit BAG (22.01.2025): Essstörungen. https://www.bag.admin.ch/ de/essstoerungen.

Caspar, F. (2025). Feedback im Psychotherapie-Training. Die Essenz jeglichen Fortschritts. Psychother Psych Med. 75:335-343.

Kraus, B. (2014). Feedback in der Psychotherapie. Aktuelle Forschungsergebnisse und Diskussion. In: Sammet, I., Dammann, G., Schiepek, G. (Hrsg.). Der psychotherapeutische Prozess. Kohlhammer, Stuttgart.

Schiepek, G. (2014). Das Synergetische Navigationssystem SNS. In: Sammet, I., Dammann, G.Schiepek, G. (Hrsg). Der psychotherapeutische Prozess. Kohlhammer, Stuttgart.

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