«ES IST ERSTAUNLICH, WIE VIELE ÄRZTE TROTZ EINER DEPRESSION NOCH ARBEITSFÄHIG SIND.»
Ärztinnen und Ärzte erkranken überdurchschnittlich häufig an Depressionen oder Burnout. Warum die Prävalenz in dieser Berufsgruppe so hoch ist und was dagegen getan werden könnte, erklärt Dr. med. Roland Kowalewski im Interview.
Herr Dr. Kowalewski, sind Ärzte tatsächlich häufiger von Depressionen und Burnout betroffen als andere Berufsgruppen?
Ja, das ist eindeutig so, bei beiden Störungsbildern. Das belegen zahlreiche Studien. Interessanterweise findet sich bereits bei Medizinstudenten mit dem Eintritt ins Studium eine schlagartige Zunahme von Depressionen. Danach bleiben die Werte relativ stabil – wobei schwer Belastete auch eher das Studium aufgeben. Während die Prävalenz der Depression in der Allgemeinbevölkerung bei fünf bis zehn Prozent liegt, beträgt diese gemäss einer sehr umfangreichen Metaanalyse bei den Medizinstudenten ganze 27 Prozent. Solch ein Effekt zeigt sich auch bei anderen Studienrichtungen, jedoch viel weniger ausgeprägt. Mit Einstieg in den Arztberuf, bei den Assistenzärzten, geht es tendenziell noch weiter nach oben, bei den «Seniors» dann wieder etwas nach unten. Vermutlich findet da auch eine weitere Selektion statt, weil quasi die besonders Resilienten übrig bleiben.
Noch höher ist die Prävalenz beim Burnout- Syndrom. Wobei Burnout weniger eindeutig definiert und messbar ist als die Depression, zumal es keine eigentliche Diagnose darstellt. Die grössten Untersuchungen und Metaanalysen zeigen aber doch recht konsistente Werte, zwischen 40 und 50 Prozent. In anderen helfenden, häufig betroffenen Berufen, etwa bei Pflegekräften oder auch Lehrern, sind es etwa 20 Prozent weniger.
Woran liegt es denn, dass Ärzte so häufig von psychischen Gesundheitsproblemen wie Depressionen und Burnout betroffen sind?
Zum einen zeigt sich immer wieder, dass die hohe quantitative Belastung – sprich Arbeitsmenge und Arbeitszeiten – ein ganz wichtiger Faktor ist, deren Reduktion die Situation eindeutig verbessert. Auf der anderen Seite ist auch ein qualitatives Element massgeblich, also die Dichte und Komplexität der Aufgaben, mit der Verantwortung für «das höchste Gut Gesundheit». Hier wird von Ärztinnen und Ärzten zu Recht erwartet, dass aus einer enormen Menge an Wissen und Daten heraus und unter Beachtung vielfältiger Regulatorien die richtigen Entscheidungen für die Diagnostik und Therapie getroffen werden, und zwar in einfühlsamer Übereinstimmung mit den Betroffenen und Beteiligten. Dazu gehören ja auch Angehörige sowie weitere Berufsgruppen, Kostenträger und Ämter. Nicht zuletzt wollen auch die Krankheitsschicksale, mit den Grenzen der Behandelbarkeit, verarbeitet werden.
Dabei dürften Ärzte gemäss Bildung und Herkunftsverhältnissen ziemlich stressresistent und sowieso hochmotiviert ans Werk gehen. Dennoch sind viele stark mitgenommen, halten aber noch lange irgendwie weiter durch.
Gehört das Durchhalten in gewissem Sinne zum Arztberuf?
Das scheint unweigerlich dazuzugehören. Es findet ja von vornherein eine Selektion hinsichtlich Motivation und Durchhaltevermögen statt, manche warten auch lange auf einen Studienplatz, wohl wissend, dass da einiges auf sie zukommt. Die Schwelle, das Erreichte aufzugeben, wird dann entsprechend hoch bleiben. Und tatsächlich bringt der Arztberuf ja auch viel Schönes und enorm Motivierendes mit sich, das man nicht mehr hergeben möchte. Arbeitslast und Verantwortung sind aber nun mal hoch. Vielleicht auch als Flucht nach vorn entwickelt sich so eine Art heroisches Element, das ja auch irgendwie schick ist, à la Dr. House, aber ebenso ungesund. Die Burnout-Merkmale «emotionale Erschöpfung », «Leistungsminderung» und «Zynismus» rücken näher. Spätestens mit der Depression wird klar, dass der Preis für den einst wohligen Adrenalinschauer zu hoch ist. Aber auch dann bleiben offensichtlich viele Ärztinnen und Ärzte eisern bei der Sache, mit entsprechend bescheidener Lebensqualität.
Ärzte warten also länger als andere Berufsgruppen, bis sie aktiv werden und sich Hilfe suchen?
Das offenbaren die Studien. Da kommt auch die Selbstbehandlung zum Zuge, die auf Dauer problematisch sein kann, aber oft auch erst einmal funktioniert, zum Beispiel, wenn Ärzte sich selbst Antidepressiva verschreiben. Während andere längst krankgeschrieben wären, können Ärzte sich so noch durchwursteln und funktionieren. Hinzu kommt das Bewusstsein, dass es angesichts der Arbeitsdichte für Kollegen und Patienten schnell prekär wird, wenn einer fehlt.
Gemäss einer britischen Studie waren 95 Prozent von Ärzten, die sich das Leben genommen haben, bis direkt vor dem Suizid arbeitstätig, das ist schon bemerkenswert. Angesichts der Leistungsorientierung dürfte die Schwelle zum Eingestehen von Schwächen oder gar psychischem Kranksein noch höher sein als sonst schon. Und so wird die depressive Unterlegung für viele Ärzte zur Normalität und fällt auch nicht mehr gross auf.
Wie können denn Kollegen und Vorgesetzte am besten auf Anzeichen von Burnout oder Depressionen bei einem Arzt reagieren?
Gute Frage. Kollegialität pflegen und ernsthaft ins Gespräch kommen ist sicher gut, wird aber erschwert, wenn die Mehrheit sowieso nah am Burnout ist und den Kollegen nicht gern raten, sich doch ruhig mal durchchecken zu lassen, sich womöglich eine Auszeit zu gönnen oder weniger zu arbeiten. Vorgesetzte haben zwar eine dahingehende Verpflichtung, müssen aber auch dafür sorgen, dass der Laden läuft, unter den Bedingungen, wie sie halt sind. Wenn alle gestresst sind, denkt der Einzelne: «Ich muss mich ja auch zusammenreissen, anders gehts nicht, ich habe mir das auch anders vorgestellt – wieso soll der das nicht hinkriegen?» Da wird nicht so einfach der eine Arzt die Patientenrolle einnehmen und der andere zum Behandler. Es braucht wohl auch eine Art Kulturwandel oder zumindest ein geschärftes Bewusstsein für diese ernsten Probleme. Solange Arbeitslast und -dichte aber «heroisch» bleiben, stösst man schnell an Grenzen.
Gibt es bestimmte Fachrichtungen in der Medizin, die ein höheres Risiko für Burnout oder Depressionen aufweisen?
Zum Burnout ist das gut untersucht, vor allem in den USA. Dort stechen Notfallmediziner mit rund 60 Prozent hervor, gefolgt von Allgemein-Internisten und Hausärzten. Arbeitsmediziner und Dermatologen stehen mit etwa 35 Prozent am anderen Ende der Skala, bei den Psychiatern sind ungefähr 40 Prozent betroffen. Tendenziell scheint also die «klinisch breite Frontarbeit» besonders viel abzuverlangen. Die Unterschiede zwischen den Disziplinen sind nicht riesig, aber doch markant.
Wie sieht es mit der Behandlung von Ärzten aus?Gibt es spezielle Therapieansätze oder Interventionen, die sich als besonders geeignet erwiesen haben? Oder sind sie vergleichbar mit den üblichen Ansätzen?
Grundsätzlich würde ich sagen, dass sie vergleichbar sind. Bei den Ärzten spielen die Arbeit und die Identifikation damit aber eine besondere Rolle – nicht nur beim Burnout, sondern oft auch bei der Depression. Zudem ist die Stigma-Problematik verschärft; das Eingestehen, dass es so nicht weitergeht und Behandlung und Erholung nötig sind, fällt umso schwerer. Erst recht das grundsätzliche Überdenken der verinnerlichten Leistungsansprüche und Ideale. Die entsprechen ja auch erst mal der gewachsenen Lebens- und Berufsplanung. Hier ein Gleichgewicht zu finden, ist nicht einfach.
Es gibt spezielle Unterstützungs- und Behandlungsprogramme für angeschlagene Ärzte. Nicht selten sind diese, vor allem im Zusammenhang mit Suchtproblemen, stark an behördliche Auflagen gebunden, weg von der Eigenverantwortung. Betroffene Ärzte müssen dann zum Teil drakonische Kontroll- und Therapiezyklen absolvieren, um überhaupt weiterarbeiten zu dürfen. Das ermuntert nicht gerade dazu, sich zu offenbaren, und ist in dieser Form fragwürdig. Je nach Land werden persönliche Rechte und Verhältnismässigkeit aber auch besser gewahrt.
In meinen Augen ist es wichtig, dass psychisch kranke Ärzte sich zwar nicht nur selbst behandeln, der Expertenstatus aber berücksichtigt wird und sie massgeblich mitentscheiden – was ja auch bei medizinischen Laien selbstverständlich ist, auch in der Suchtbehandlung.
Sie haben Unterstützungsprogramme erwähnt. In der Schweiz gibt es das Netzwerk ReMed. Wird dieses auch tatsächlich genutzt?
Ja, jährlich etwa ein halbes Prozent der Ärzteschaft meldet sich dort wegen gesundheitlicher Probleme, meistens im Kontext von Arbeitsüberlastung, um erst einmal Rat zu erhalten. Das Angebot ist niederschwellig und primär auf Augenhöhe. Man bekommt dann innerhalb von drei Tagen eine Konsultation zur weiteren Abklärung und gegebenenfalls eine Therapievermittlung an Psychiater und Psychotherapeuten, die sich speziell bereit erklärt haben, mit Kolleginnen und Kollegen zu arbeiten. Es gibt auch regionale Coachinggruppen, wo sich betroffene Ärzte austauschen und beraten.
Bei ReMed findet also eine Art Triage statt.
Ja, primär das. In Extremfällen könnten auch Meldungen an Behörden erfolgen, aber die Schwelle, sich da über die Schweigepflicht hinwegzusetzen, ist natürlich sehr hoch. Insgesamt ist Re- Med ein guter Ansatz und durchaus etabliert, könnte aber ruhig noch mehr genutzt werden.
In Deutschland gibt es Kliniken, die sich darauf spezialisiert haben, Ärzte zu behandeln. Würde ein solches Angebot auch in der Schweiz Sinn machen?
Durchaus. Bei uns in Aadorf haben wir immer wieder mal Kolleginnen und Kollegen in Behandlung, was gut funktioniert. Da spielen schon die arzttypischen Themen hinein und der Umgang hat eine eigene Nuance. Bei einer Spezialisierung könnte man sich noch gezielter darauf einstellen, und der Austausch untereinander würde auch helfen.
Welche Massnahmen wären aus Ihrer Sicht am effektivsten, um Burnout und Depressionen bei Ärzten vorzubeugen?
Eine Reihe von Studien untersuchen die Auswirkung spezieller Schulungen für besseres Priorisieren, Effizienzsteigerung, «Leadership » und dergleichen – und finden fast keinen Effekt. Die Reduktion der Arbeitslast hingegen führt klar zu besserem Befinden. Als inhaltlich besonders belastend genannt werden als gängelnd empfundene administrative Aufgaben und Umstände, unzureichende Wertschätzung und schwierige Interaktionen, aber auch der Zeit- und oft dann Schlafmangel sowie die grosse Verantwortung mit dem Gefühl, nie ganz fertig zu sein und alles gemacht zu haben.
Kurzfristig lässt sich das nicht alles verändern – allmählich aber vielleicht schon. Ich erinnere mich gut daran, dass man vor vielen Jahren für die Primär-50-Stunden-Woche kämpfte und einem entgegengehalten wurde: «Die sind doch Ärzte geworden und wussten, was auf sie zukommt.» Seither haben Bewusstsein und Verständnis aber zugenommen, nicht zuletzt auch, weil von einstiger Ärzteschwemme schon lange keine Rede mehr sein kann. Ich denke, der Sinneswandel muss weitergehen, dass Ärzte auch nur Menschen sind, die zwar bereit sind, hart und verantwortungsvoll zu arbeiten, aber schon im Sinne der Patientensicherheit die eigene Gesundheit und Lebensqualität im Auge behalten und sich, bei aller Anpassungsbereitschaft, auch gesundheitspolitisch selbstbewusst positionieren sollten. Die Arbeit ist und bleibt anspruchsvoll und auch sehr befriedigend, aber die Dichte darf nicht erdrücken. Ausgleich und Wertschätzung müssen bis zu einem gewissen Grad dazu korrespondieren. Da ist zum Teil Umorganisieren nötig. Dann können OP-Kataloge auch mit halbwegs normalen Arbeitszeiten erfüllt werden. Untersuchungen zeigen, dass die eigentlich belastende Aufgabenkomplexität gut toleriert wird, wenn sie sozusagen zum Stellenprofil passt. Eine Überidentifikation mit der Arbeit und unzureichende «Gegenleistung» gehen aber klar mit mehr Depressionen einher. Wenn Ärztinnen und Ärzte genug Ausgleich und Erholung finden, dann gehts ihnen besser und sie werden auch konzentrierter arbeiten und im Kontakt entspannter rüberkommen. Es lohnt sich also.
LADEN SIE SICH DAS VOLLSTÄNDIGE APROPOS NR. 26 - INKLUSIVE DIESES ARTIKELS - ALS PDF HERUNTER.
Sie haben Fragen oder brauchen Hilfe? WIR SIND FÜR SIE DA!
RUFEN SIE UNS AN
+41 52 368 88 88
SCHREIBEN SIE UNS
info(at)klinik-aadorf.ch