«FÜR EINE GUTE BEHANDLUNG VON ESSSTÖRUNGEN IST DAS SPEZIFISCHE WISSEN ABSOLUT ESSENZIELL.»
Warum ist es so schwierig, Essstörungen wie Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa zu behandeln oder überhaupt als Krankheiten zu verstehen? Und wie unterscheiden sich diesbezüglich die Perspektiven von Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen? Als langjährige Expertin für Essstörungen liefert Prof. Dr. med. Gabriella Milos Antworten und Einblicke in die Thematik.
Prof. Dr. med. Gabriella Milos ist anerkannte Expertin für Essstörungen, Senior Consultant an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich, Präsidentin der Schweizerischen Gesellschaft für Essstörungen und langjährige Wissenschaftliche Beirätin der Privatklinik Aadorf.
In Anbetracht der gegenwärtigen soziokulturellen Fixierung auf Schlankheit und Essverhalten könnte man annehmen, dass es sich bei Essstörungen wie Bulimia nervosa oder Anorexia nervosa um relativ neue Phänomene handelt. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es Essstörungen schon seit sehr langer Zeit gibt. Die frühesten historischen Beschreibungen reichen zurück in die hellenistische Zeit und das Mittelalter.
Bis heute hat sich das Verständnis der drei Hauptformen sowie der Nebenformen von Essstörungen deutlich ausgedehnt und entwickelt sich weiter. Dennoch ist in der Gesellschaft das Unwissen über Essstörungen nach wie vor gross, häufig werden sie nicht als tatsächliche Krankheiten verstanden. In Fachkreisen wird das Wissen zwar kontinuierlich ausgebaut, doch gemessen an der potenziellen Gefährlichkeit von Essstörungen bestehen in Bezug auf spezialisierte Behandlungsangebote noch grosse Lücken.
Neben dem Zentrum für Essstörungen des Universitätsspitals Zürich ist auch die Privatklinik Aadorf seit über 25 Jahren auf die Behandlung von Menschen mit Essstörungen spezialisiert. Prof. Dr. med. Gabriella Milos ist langjährige Wissenschaftliche Beirätin der Privatklinik Aadorf und Expertin für Essstörungen. Im Gespräch betont sie, wie wichtig die Spezialisierung für dieBehandlung von Menschen mit Essstörungen ist.
Frau Milos, wie ausgeprägt ist die Akzeptanz von Essstörungen in der Gesellschaft? Werden sie verbreitet als schwerwiegende Krankheiten wahrgenommen?
Man spricht heute wohl mehr und offener über Essstörungen als zum Beispiel noch vor 20 Jahren. Ob die Akzeptanz aber tatsächlich zugenommen hat, ist eine schwierige Frage. Mein Eindruck ist, dass Essstörungen noch immer sehr häufig bagatellisiert werden. Rasch denkt man, dass es sicherlich nicht so schlimm sei. Ich habe das Gefühl, dass zum Beispiel eine Schizophrenie, eine Depression oder auch Diabetes im Vergleich ernster genommen werden als Essstörungen.
Wie unterscheidet sich die Sicht von Betroffenen, von Angehörigen und von Fachpersonen auf eine Essstörung? Liegen die drei Perspektiven weit auseinander?
Betroffene sehen die Krankheit häufig nicht ein. Gerade Menschen mit Anorexia nervosa fühlen sich oft nicht krank. Sie glauben beispielsweise, dass sie dank der Anorexie besser in der Schule seien oder mehr Bewunderung erfahren, weil sie schlank sind. Diese Uneinsichtigkeit ist ein grosses Problem, denn wer keinen Leidensdruck hat, ist in der Regel auch nicht bereit für eine Therapie. Selbst bei schweren Verläufen haben Betroffene grosse Mühe, ihren Zustand als Krankheit wahrzunehmen.
Die Angehörigen hingegen leiden enorm. Eltern, Partner:innen und Freund:innen sind mit einer ausserordentlich schwierigen Situation konfrontiert. Ich habe gerade heute mit dem Vater einer Person mit Essstörung gesprochen. Zu sehen, wie das eigene Kind – auch wenn es erwachsen ist – buchstäblich verhungert, in einer Welt, in der es so viel zu essen gibt: Das ist fast nicht auszuhalten. Häufig führt dies auch zu Konflikten. Etwas anders ist die Situation bei Bulimie und der Binge-Eating-Störung. Da gibt es durchaus Angehörige, die finden, man solle sich einfach etwas zusammenreissen und dann werde das schon wieder. Aber das tut es eben nicht.
Als Fachperson muss man vom Phänomen «Essstörung» etwas fasziniert sein. Dass eine intelligente junge Person sich verhungern lässt, wundert mich immer wieder. Viele Fachpersonen mögen dies nicht und vermeiden auch, Betroffene zu behandeln. Oft glaubt man, dass Menschen mit Essstörungen lügen und nicht transparent seien – und sich deshalb fast nicht therapieren liessen. Das Denken einer Person mit Anorexie ist nicht einfach zu verstehen. Unter anderem ist es geprägt von «Belohnung durch Verzicht». Dies führt oft zu Handlungen, die in den Augen von Gesunden absurd wirken. Wahrscheinlich spielt auch eine Rolle, dass bei Essstörungen in der Regel psychische und körperliche Probleme stark zusammenhängen. Dies hat zur Folge, dass Fachpersonen oft lieber andere psychische Erkrankungen behandeln, bei welchen die Somatik weniger relevant ist.
Sie haben das Lügen und die fehlende Transparenz angesprochen. Steht dies vielleicht auch im Zusammenhang mit der Akzeptanz von Essstörungen? Muss man Essstörungen stärker verheimlichen als beispielsweise ein Burnout und kann darum nicht ganz aufrichtig sein in der Therapie?
Das Verheimlichen ist sicher ein bedeutender Aspekt. Gerade das soziale Essen ist ganz schwierig. Menschen mit einer Anorexie sagen beispielsweise häufig, dass sie schon gegessen haben oder später essen würden, um dem gemeinsamen Essen aus dem Weg zu gehen. Sie versuchen, der Krankheit möglichst treu zu bleiben und dem Diktat der Anorexie zu folgen.
Bei Menschen mit einer Binge-Eating-Störung oder mit starkem Übergewicht ist es häufig ein wenig anders. Sie haben meistens kein reelles Bild mehr davon, was man essen soll und wie eine normale Portion aussieht. Jemand, der kein Sättigungsgefühl hat, kann auch bei einer sehr üppigen Nahrungsaufnahme noch das Gefühl haben, gar nicht so viel gegessen zu haben. Auch das führt zu Konflikten. Darum essen Betroffene heimlich; weil sie sich schämen, vor anderen so viel – oder so wenig – zu essen.
Auch die Bulimie ist enorm schambesetzt. Patientinnen und Patienten reden sehr ungern über das Erbrechen und Abführen. Darum verstecken und verheimlichen sie es.
Sie setzen sich seit mehreren Jahrzehnten intensiv mit Essstörungen auseinander. Hat sich das Verständnis für Essstörungen in dieser Zeit stark verändert?
Es gibt jedenfalls laufend neue Untersuchungen. Ich denke vor allem an eine Untersuchung aus dem Jahr 2019, die besagt, dass Anorexia nervosa eine metabolisch-psychiatrische Erkrankung sei und nicht nur eine psychiatrische. Das ist ganz wichtig und erfreulich, denn es entspricht meinem Verständnis der Erkrankung. Aber wie stark das moderne Verständnis von Essstörungen tatsächlich präsent ist in Fachkreisen, lässt sich nicht generell festhalten – es hängt stark vom jeweiligen Fachkreis ab.
Wie beurteilen Sie die Versorgungssituation in der Schweiz?
Natürlich könnte die Versorgung in der Schweiz besser sein. Vor allem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie müsste man die Fälle sofort erfassen, denn je länger man wartet, desto schwieriger sind die Essstörungen zu behandeln. Allerdings gibt es regionale Unterschiede. Häufig braucht es dabei einfach Personen, die sich intensiv mit der Problematik auseinandersetzen. Nehmen wir zum Beispiel Lausanne. Da gab es jemanden, der sich politisch stark dafür eingesetzt hat, dass Gelder fliessen und eine bessere Versorgung gewährleistet ist. Und dann ist das auch passiert.
Also wird politisch zu wenig gemacht?
Es braucht einfach Personen, die aktiv werden und sich für diese Krankheiten engagieren. Wenn mehr Ressourcen vorhanden sind, dann kann man auch mehr bewirken.
Sie erwähnten die Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Haben Sie den Eindruck, dass diese Altersgruppe hierzulande gut genug betreut werden kann?
Ich habe das Gefühl, in den letzten Jahren hat man viel dafür getan, damit die Patientinnen und Patienten schneller gesehen werden. Aber wichtig ist, dass Essstörungen auch tatsächlich rasch als solche erkannt werden. Die Hausärzt:innen müssen sie schnell erkennen, die Pädiater:innen müssen sie schnell erkennen. Und dann gehören diese jungen Patientinnen und Patienten in die Hände von Fachpersonen, die genau wissen, was eine Essstörung ist. Notwendig sind diesbezüglich auch störungsspezifische Weiterbildungsmöglichkeiten.
Vielleicht muss die Prävention auch schon im Kindergarten beginnen. Eine Kollegin sagte mir neulich, dass in der Schule ihrer siebenjährigen Tochter Diäten ein sehr häufiges Thema seien. Das ist erschreckend.
Welche Vorteile bietet eine spezialisierte Fachklinik im Vergleich zu einer Institution, die das komplette psychotherapeutische Themenspektrum abdeckt?
Spezialisierung ist sehr wichtig. Essstörungen sind nicht nur ein psychisches, sondern auch ein körperliches Problem, darum braucht es ein interdisziplinäres Team. Wenn das nicht vorhanden ist, dann wird es schwierig.
Es ist ja so: Jeder Mensch isst. Wir alle essen. Und in der Regel glauben wir, dass wir selber genau wissen, was für uns gut ist. Wenn nun aber Leute ohne spezifische Ausbildung und ohne Fachwissen damit anfangen, aus einem Gefühl heraus irgendwelche Informationen über Essstörungen zu verbreiten, dann ist das gefährlich, ausserdem fühlen sich die Patientinnen und Patienten nicht verstanden. Für eine gute Behandlung ist das spezifische Wissen absolut essenziell.
Welche Therapieansätze sind in Ihren Augen besonders sinnvoll bei der Behandlung von Menschen mit Essstörungen?
Wie gesagt, es braucht spezifische Therapieansätze. Und Interdisziplinarität ist ganz wichtig, denn es müssen körperliche und psychische Faktoren gleichzeitig berücksichtigt werden. Bei Kindern und Jugendlichen, die noch in der Familie leben, sind bei Magersucht systemische Ansätze am wirksamsten – also Ansätze, die alle Familienmitglieder einbeziehen. Vor allem in der Behandlung von Bulimie und Binge-Eating-Störungen haben sich kognitiv- verhaltenstherapeutische Elemente bewährt. Aber auch diese muss man in die Biografie der jeweiligen Person einbetten und verschiedene Methoden integrieren. Entscheidend ist, dass die Forschung in den nächsten Jahren bessere Instrumente für die Behandlung dieser Krankheiten liefern wird.
Kann man Essstörungen heute besser behandeln als früher?
Zum Teil ja. Man verfügt über grösseres Wissen, auch ist das Bewusstsein gewachsen, dass Essstörungen behandelt werden müssen – und zwar gut behandelt werden müssen. Zwar gibt es nach wie vor Lücken und Mankos. Man hört zum Beispiel immer noch, dass Fachpersonen behandeln, ohne das Gewicht einer anorektischen Patientin zu kennen, was natürlich nicht geht. Aber generell denke ich, dass eine Verbesserung der Behandlungen stattgefunden hat.
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